Das Kletterjahr 2020

Sport- und Alpinklettern daheim nach einem ausgiebigen Corona-Trainingslager im Frühling

Am Peilstein
Nachdem ein zaghaftes Verreisen endlich wieder möglich war, traten wir zu fünft die Kletterreise Richtung Osten zum Peilstein an.
Wie gern würde ich diesen Rückblick auf mein Kletterjahr mit ein paar lustigen Einleitungssätzen beginnen, aber der Frühling beginnt mit einer Katastrophe: Hias ruft mich am Abend des 22. April an und teilt mir nach meinen fröhlichen Begrüßungsworten mit brüchiger Stimme mit, dass Mascht am Hochzinth mit dem Snowboard tödlich verunglückt ist. Martin, mit dem so viele schöne Erinnerungen verbunden sind, das große Abenteuer "Ende Nie", unsere gemeinsamen Erschließungen "Serendipity" und "Flaschenpost" an der Kasawand, die kurzentschlossene Fahrt nach Osp im legendären roten Miele-Bus, die unvergesslichen Klettertage auf Sardinien, … So viele ausgefüllte Tage in den Bergen oder auch nur im Klettergarten. Am folgenden Abend brechen wir die Coronaregeln, denen wir seit 15. März unterworfen sind, und sitzen bis spät in die Nacht beisammen, um uns all die schönen Erlebnisse noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen und uns gegenseitig Trost zu spenden. Irgendwann gegen drei Uhr morgens radle ich sehr benommen heim, ein Wunder, dass ich die Strecke ohne Sturz bewältige.

Gerade ein einziges mal schaffen es Hermann und ich im Frühjahr noch ins Kleine Verdon, bevor wir der Bitte um Vermeidung jeglichen Risikos zur Schonung der Krankenhaus-Ressourcen nachgeben und nicht mehr in den Klettergarten gehen. Bei diesem einen Besuch treffen wir auf ein Pärchen aus Fieberbrunn, das noch nichts von den Quarantänebestimmungen für ganz Tirol weiß. Auf den augenzwinkernden Hinweis, dass sie wahrscheinlich gar nicht mehr heimkämen, weil die Überschreitung der tirolisch-salzburgischen Landesgrenze eigentlich bereits illegal sei, mischt sich ein Kletterpaar aus Berchtesgaden kopfschüttelnd ein: "Bei eich geht's zua..." Nur wenige Stunden später geht der Grenzbalken zwischen Deutschland und Österreich hinunter und Berchtesgaden kommt mit hohen Corona-Fallzahlen in die Medien.

"Daheimsein" bedeutet in diesen Tagen in erster Linie Trainingslager. Die Aussicht, nicht mehr Klettern gehen zu können, weder im Freien noch in der Kletterhalle, verursacht einen ordentlichen Stress. Lösung und Linderung meiner Probleme verspricht das Carport, in das gleich einmal die Strickleiter und ein Türreck montiert werden, das noch aus meinem Studienjahr in Trento 1995 stammt. Erstaunlich, dass es genauso wie jenes aus meiner Studienzeit in Innsbruck überhaupt noch existiert! Dass es in der Zwischenzeit Rostflecken bekommen hat, stört mich nicht. Aber auch das Wissen um den Türrahmen in meinem Schlafzimmer, an dem ich 16-jährig in den Anfangsjahren meines Sportkletterns wohl Tausende Klimmzüge absolviert habe, beruhigt mich ungemein. Unglaublich, dass ich jetzt wieder dranhänge. Tja, und so vergehen die Tage mit abwechselnden Besuchen auf Reiteralm, Maurerkopfach oder Bärenköpfl, Grießensee-Läufen, Hangel-, Klimmzug- und Slackline-Sessions zuhause im Garten. Kein Tag ohne Bewegungseinheit. Nur das regelmäßig genossene Bier vom Pinzgabräu - einer meiner Beiträge zur Unterstützung der regionalen Wirtschaft - konterkariert möglicherweise meine Versuche, mich in diesen Tagen der Isolation körperlich aufzubauen.

Irgendwann im Mai trauen wir uns dann doch wieder in die Öffentlichkeit und ins Freie. Die Motivation ist stark, die Fingerkraft leider nicht im gleichen Maß, darum verlagert sich das Ziel meiner Bemühungen weg vom "Avatar" im Unteren Wunderland hin zu einem Projekt, das ich vor vielen Jahren eingebohrt, aber mit einer einzigen Ausnahme nie probiert habe. Dass ich den Einstiegsboulder und in weiterer Folge den ersten Teil dieser Route schaffe, gehört bestimmt zu den Highlights dieses Jahres. Weil ich die Kletterlinie und die Einstiegszüge außerirdisch schöne finde, und mir das Projekt wenige Tage nach meinem 51. Geburtstag gelingt, scheint mir der Name "Area 51" witzig und passend.

Ende Juni kann man dann sogar ohne schlechtes Gewissen - die Einhaltung der Abstandsregel im Fahrzeug reicht aus, eine MNS-Maske ist gar nicht nötig - im Inland verreisen. Gemeinsam mit einer kleinen Gruppe kletterbegeisterter Alpenvereinsmitglieder geht es für ein Wochenende zum Peilstein südlich von Wien. Und obwohl Corona noch überall präsent ist, spüren wir eine große Freiheit und Erleichterung, alles fühlt sich (fast) an wie immer. Und als Gruppe verstehen wir uns sowieso ausgezeichnet, ich hab mich bei meinen AV-Fahrten selten so wohl gefühlt. Beim Schreiben dieser Zeilen, im verschärften Lockdown des Jänners 2021, erscheinen mir diese Tage wie ein Traum.

Im Sommer brummt das Geschäft. Es sind sehr viele Gäste in der Region, sogar das Schnupperklettern beim Salzburger Hof ist gut gebucht. Die zwei Kletterstunden jeden Dienstag Nachmittag sind allerdings bereits mit einer gewissen Wehmut verbunden, denn ich weiß schon, dass das Hotel den "Kletterleo" zu Gunsten eines erweiterten Wellness-Angebots abbauen wird. Echt schade, dass die hufeisenförmige Kletterwand von der heimischen Kletterszene nicht angenommen wurde, obwohl der Salzburger Hof sich in allen Belangen eines Kletterwandbetreibers stets äußerst entgegenkommend und großzügig gezeigt hat. Die Kletterwand wird im Oktober an die Sektion Lofer verschenkt, die sie in Rekordzeit abbaut. Good by Kletterleo, wo wirst du wohl wieder auftauchen?

Obwohl zeichnerisch eher unbegabt, darf ich die ehrenvolle Aufgabe übernehmen, für die Tourismusregion Saalachtal Topos von ausgewählten Klettergärten der Region anzufertigen. Endlich - oder sollte ich, der ich an die Ruhe der heimischen Gebiete gewohnt bin, sagen: leider? - soll das Kletterangebot jetzt auch touristisch beworben werden. Wie aufwendig das Aufnehmen der Daten und das Zeichnen werden würde, ist mir natürlich zunächst nicht bewusst, aber auf das Ergebnis bin ich dann natürlich schon ein bisschen stolz. Außerdem fällt es mir zu, das Kleine Verdon zu sanieren. Ich erinnere mich mit Schrecken an den zweiten, äußerst warmen Tag, der mir beim Aufjümaren und Herumwerkeln mit Bohrmaschine und Flex in der prallen Sonne beinahe einen Kreislaufkollaps beschert hätte. Vom Ärger mit dem bei dieser Wärme ultraschnell aushärtendem Mörtel beim Kleben der Zwischenhaken ganz zu schweigen. Und an das Abflexen eines Hakens nahe am Sicherungsseil, ohne für eine redundante Sicherung zu sorgen, um nur ja endlich fertig zu werden, will ich lieber gar nicht mehr denken.

Das Hantieren mit Bohrmaschine, Hammer und Haken nach langer Zeit ohne Erschließungstätigkeit weckt aber auch die Sehnsucht nach etwas Neuem. Bei Robert renne ich mit meinen Wünschen offene Türen ein. Er hat schon lang ein Auge auf die Pfannwand geworfen und bisher nur auf ein Startzeichen gewartet, dort die ersten Haken zu setzen. Nachdem wir uns beim Bürgermeister noch einmal vergewissert haben, dass der Alte Steinbruch auch bestimmt zur Erschließung freigegeben ist, legen Robert und ich los. Mit dem Versprechen der Bayrischen Saalforste im Hinterkopf, dass an der Pfannwand geklettert werden darf, steigen wir quer zur Schusslinie der Schießbahn im Alten Steinbruch zu den Einstiegen unserer zukünftigen Routen auf. Im Unterschied zu meiner ungeduldigen Art geht Robert sehr systematisch vor: während ich es einfach nicht erwarten kann, den Bohrmeissel an die ersten Kletterlinien anzusetzen, legt er mit Säge, Pickel und Schaufel erst einmal einen schönen Zustieg zu "unserem" Klettergebiet an. In den folgenden Wochen entstehen dann, unter mehr oder minder großem Putz- und Entastungsaufwand, die ersten von hoffentlich noch vielen weiteren schönen Routen an dieser sommertauglichen Schattenwand. Allein die Zecken am Wandfuß trüben ein wenig unsere Begeisterung, die mit jedem Besuch an dem kompakten Kalkpanzer wächst.

Ende August hat Georg ein paar Tage Urlaub und Zeit für eine Klettertour. Er hängt jetzt zwar öfter im Geschirr seines Gleitschirms als im Klettergurt, aber loslassen tut ihn das Klettern selbstverständlich nicht. Er schlägt die "Direttissima" am Predigtstuhl im Wilden Kaiser vor, die ist sanft saniert und er hat gute Erinnerungen daran von einer früheren Begehung mit Huwi Fink. Die "Direttissima" sagt mir natürlich was, vor Jahren bin ich mit Hans das benachbarte Spiel der Narren geklettert, was sich allerdings beinahe zu einem Drama ausgewachsen hätte: den Gipfel des Predigtstuhls haben wir seinerzeit im Starkregen des überraschend aufziehenden Gewitters nicht erreicht. Gott sei Dank muss sich auch Georg heute nichts mehr beweisen und so darf ich den Zustieg zum Einstieg unserer Route hoch über dem Botzong-Kessel seilgesichert bewältigen. Mit dem Huwi ist er die unangenehme und ausgesetzte Querung selbstverständlich immer ungesichert geklettert. Georg glaubt sich auch daran zu erinnnern, dass sie damals für die "Direttissima" gar keine Klemmkeile mitgenommen haben - es steckten laut Huwi ohnehin genug Normalhaken. Ich bin aber sehr froh um jeden Keil und jeden Friend, den ich zwischen den geklebten Zwischenhaken und den mehr oder weniger zuverlässigen Schlaghaken anbringen kann. Manche davon liegen sogar richtig gut! Speziell die ewig lange zweite Seillänge hat sich mir tief ins Gedächtnis eingeprägt, ein typischer, runder Kaiser-Riss. Kurz vor dem Stand hat man das Gefühl, vor einer unkletterbaren Stelle zu stehen, aber irgendwie findet sich dann für die rechte Hand doch wieder ein Griff und mit beherztem Anpiazen des glatten Kalkfelsens geht es doch noch frei weiter. Ich habe schließlich auch das Vergnügen, die Schlüsselstelle vorzusteigen und dank gut eingechalkter Griffe von einer der vorigen Seilschaften und der dadurch angezeigten Lösung gelingt sie mir auch auf Anhieb. Wetter und Stimmung am Gipfel sind prächtig, ich bin gern mit Georg unterwegs.

Anfang Oktober bekomme ich von Eva eine Einladung, bei der Überschreitung des Hirschbichlkamms mitzugehen. Der Einladung ist eine Fotografie der Tourenbeschreibung aus dem Rother-Führer angehängt. Dort steht unter anderem "Wer ein mühevolles Ansteigen nicht scheut, sowie das streckenweise sehr brüchige Gestein zu behandeln versteht, mag die landschaftlich wirklich großartige Gratwanderung […] ausführen". Verstehe ich, sehr brüchiges Gestein zu behandeln? Kein Wunder, dass ich am Vorabend der Tour nicht besonders gut schlafe.
Die Gratwanderung gehört dann mit Abstand zu den eindrücklichsten Erlebnissen in diesem Jahr! Über Stunden in solcher Ausgesetztheit war ich nur selten unterwegs. Und die Umgebung ist einfach spektakulär. Am Ameisnockenkopf passiert mir dann aber ein Mißgeschick: mir erscheint es so logisch, dass der Weiterweg entlang des am Gratansatz hochziehenden, unscheinbaren Kamins verläuft, dass ich sofort drauflos klettere, während die anderen mit zweifelnden Mienen unten warten. Nach einigen Metern in richtig brüchigem Gestein geht dann gar nichts mehr, beim Gedanken, nach rechts zu queren und total ausgesetzt im schottrigen Fels weiterzuklettern, bekomme ich richtig Panik. Ich bin ungemein erleichtert, nach meinem Rückzug wieder heil unten anzukommen, bin mir aber trotzdem sicher, dass das der einzig mögliche Weiterweg sei. Eva sieht sich da oben dann aber auch nichts, und so sind wir ratlos, wie es weitergehen soll. Wir werden allerdings auf unserem Weg beobachtet: der Loferer Bergrettungsobmann hat uns im Visier seines Fernglases und gibt uns einen telefonischen Hinweis, der uns den rechten Kamin und damit den richtigen Weiterweg nehmen lässt. In der Zwischenzeit hat Norbert auch schon den Schlaghaken am Einstieg des Kamins entdeckt. Wie einfach sich das Durchklettern der Südwand des Ameisnockenkopfs schließlich auflöst, inklusive dem Durchschlupf unter dem riesigen Klemmblock, wird jedem Begeher des Hirschbichlkamms in guter Erinnerung bleiben.

Dieses Jahr bin ich auch häufig mit Thomas unterwegs. Wir fahren oft auf die Steinplatte, meistens zur "Schuppe", wo es sich im Sommer einfach gut aushalten lässt. An die Besucher der Aussichtsplattform, von wo uns die penetranten "Hallo! Hallo!"-Rufe der Kinder entgegenschallen, und die laienhaften Kommentare direkt oberhalb unserer Köpfe, von wegen "Kuck mal, 'n Kletterer an 'ner Schnur! Ich würd mich das nich trauen." gewöhnen wir uns. Mit dem "Author of salvation", von Georg eingebohrt aber als Projekt freigegeben, gelingt ein weiteres Kletter-Festspiel, eines von so vielen in diesem Jahr. Die Freude über das Schaffen der spektakulären "Perle", entlang der Kante am Schluchtrand zur Feberwand, wiegt nicht minder viel. Wenn ich so überlege, dann sind und waren stets die Tage auf der Steinplatte glücklich verbrachte Tage.

Den schönen Herbst benützen wir aber auch, um uns an den warmen Südwänden von Urlkopf und Kasawand auszutoben. "Perce verance" steht schon lang auf der Wunschliste, dieses Jahr ist es endlich so weit. Alle Seillängen gelingen auf Anhieb, die Befriedigung ist groß, und dann vergesse ich meine Kletterpatschen am letzten Stand der Route, merke es aber erst, als wir längst schon am Rückweg zum Auto sind und es bereits zu dämmern beginnt. Der unnötige Verlust wurmt mich so, dass ich am folgenden Tag noch einmal auf den Urlkopf wandere, um die Kletterschuhe zu bergen und eine spätherbstliche Abendstimmung zu erleben.
An der Kasawand legen wir - lege ich - einen klassischen Verhauer hin, der uns aus der "No woman no cry" in die "Energiekrise", befördert, wo wir mit den Einstiegsmetern der Schlüsselseillänge und unangenehmen Stürzen auf den Sicherer am Standplatz wenig Freude haben. Besser geht es uns einige Tage später beim HG-Abklettern in der Route "Bruderliebe", wo wir mit unserer Begehung den zweimaligen Zusatz "A0" in der Routenbeschreibung obsolet machen.

Und jetzt? Nachdem Georg, Christian und ich noch die letzten Sonnenstrahlen im November - ebenso wie die Route "Spätlese" - am Hochkranz abstauben konnten, mit einem magischen letzten Tag, an dem die Reifkristalle an den Bäumen im ersten Sonnenlicht wie ein Glitzerregen zu Boden sanken, sitze ich beim Schreiben dieser Zeilen schon wieder daheim in meinem Trainingslager: schon wieder Lockdown und kein Ende in Sicht. Hier sitze ich und beschließe die Rückschau auf die vergangenen Monate mit dem Wunsch, dass das kommende Jahr nicht schlechter sein möge als dieses magische, vermaledeite, wunderbare 2020.

Author of salvation
Unter den Flügeln des Drachen (bzw. der Aussichtsplattform des Triassic Parks auf der Steinplatte): "Author of salvation"
Direttissima am Predigstuhl
Nach langer Zeit wieder einmal im Wilden Kaiser: "Direttissima" am Predigtstuhl
Am Gipfel des Predigstuhls
Mit Georg unterwegs zu sein bedeutet stets eine geistige und spirituelle Bereicherung.
Hirschbichlkamm
Ein alpines Schmankerl der Sonderklasse, der eher unbekannte Hirschbichlkamm. Wilde Tief- und Ausblicke in höchster Ausgesetztheit garantiert!
Hirschbichlkamm
"Sie besteht aus einer ziemlich langen schnurgeraden und gleichmäßig schmalen, senkr. Mauer, deren scharfe Schneide man zum Teil im Reitsitz überwindet."
Perce Verance am Urlkopf
Thomas turnt den Linksquergangs in der zweiten Seillänge der "Perce Verance" hinüber. Es ist immer wieder ein Vergnügen, das Gefühl und die Leichtigkeit in seinen Bewegungen zu beobachten.
Energiekrise
Aus dem geplanten gemütlichen Klettertag wurde eine beinharte Sportkletterei, nachdem es uns im Quergang aus der "No woman no cry" direkt in die Schlüssellänge der "Energiekrise" verschlagen hat.
Bruderliebe an der Kasawand
Die "Bruderliebe" an der Kasawand kannte ich bisher noch nicht. Hias hat zwar gemutmaßt, dass wir sie vor Jahren bereits geklettert sind, aber mir fehlt daran jede Erinnerung - und beschwören konnte Hias es auch nicht.

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