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Lichtreflexe oberhalb Rastboden
Der Winter beginnt sehr früh - bereits Anfang Dezember. Noch nie, scheint mir, bin ich in den Jahren zuvor so oft im Spielberggebiet unterwegs gewesen wie dieses Jahr. Und kein einziges mal hatte ich schlechten Schnee! Sogar zur Zeit grauenhaften Bruchharschs ließ sich vom Sunnkegei bis ins Schwarzleotal eine Firnlinie finden.
Erwacht aus traumloser Nacht stehe ich früh an der Haltestelle und warte auf den Bus. Die Sterne sind gerade am untergehen. Es ist mein Geburtstag und als Geschenk darf ich eine Überraschungsreise unternehmen. Wohin es geht ist ein Geheimnis. Der Tag verspricht wunderschön zu werden, zwar ist das eine oder andere Gewitter nicht auszuschließen, aber es sollte in Summe trocken und sonnig bleiben. Ich bin ohne Gepäck und gehe mit nichts als großen Erwartungen auf diese Fahrt. Als ich bei der Haltestelle eintreffe, ist mein ältester Freund bereits da, um mich auf dieser Reise zu begleiten. Auch andere Busreisende kommen nach und nach zur Haltestelle, einige von ihnen sind mir bekannt, die meisten kenne ich jedoch nicht.

Der Linienbus trifft ein und der Fahrer, durch und durch nur Knochen und Gebein, öffnet uns die Türen und heißt uns mit markigem Ton einsteigen. Drinnen herrscht ein großes Hallo und ich erkenne mit größter Freude, dass meine ganze Familie bereits im Bus sitzt. Sogar meine beiden Omas werden einen kurzen Teil der Fahrt mit mir gemeinsam unternehmen. Die Opas haben sich leider entschuldigt. Auf dem Weg durch die Sitzreihen hin zu meiner Familie begrüßen mich viele Freunde und Bekannte, klopfen mir auf die Schulter und gratulieren mir zum Geburtstag. Ich bin überrascht und erfreut, sie alle hier zu sehen. Das wird ein wunderbarer Ausflug, denke ich und setze mich beglückt zu den Eltern und Geschwistern, die mich herzlich auf dem für mich reservierten Platz in ihrer Mitte empfangen. Meine Mutter umarmt mich lange und innig und steckt mir einen Brief zu, den ich aber nicht sofort sondern erst gegen Ende der Reise lesen soll. Die Wärme der Umarmung vertreibt das letzte Frösteln des frischen Morgens. Danach bekomme ich als Stärkung gleich einmal ein Stück Kuchen. Er ist aus Vollkorn gemacht und nicht sehr süß. Aber er ist gesund und während ich das erste Stück davon verspeise, legt mein Vater stolz seinen Arm um meine Schultern und überreicht mir viele Bücher - darunter Werke über Physik und Mathematik, aber auch ganz besonders schöne Bergbücher und zuletzt auch jene, die er selbst geschrieben hat und in denen er seine Lebenserfahrungen und -anschauungen darlegt.

Wir stimmen erste Lieder an. Nicht ohne dass man mir vorher erklärt, wie ich mit den schwarz angemalten und den nur schwarz umrandeten Ellipsen, die einmal mit und dann auch wieder ohne Notenhals daherkommen, und die auf den fünf Notenlinien in wilder Ordnung aufgezeichnet sind, umzugehen hätte. So leidlich beginne ich, die Musik zu begreifen, die ihrerseits immer mehr und immer stärker von mir Besitz ergreift. In einer Bank taucht plötzlich ein Akkordeon auf und begleitet den Chorgesang. Dann darf auch ich mir das Instrument umschnallen und seine Tasten und Knöpfe drücken. Schließlich singen wir nicht nur die bekannten Weisen, sondern auch Stücke, die meine Schwester geschrieben hat. Alle vier Geschwister bilden wir schließlich ein Gesangsquartett und ich begreife voll Begeisterung und Dankbarkeit, wie harmonisch wir zusammen klingen. Welch eine Freude, mit ihnen gemeinsam in diesen Tag zu gehen!

Draußen saust inzwischen die Welt an uns vorbei. Wir staunen, was wir auf dieser Fahrt, von der mir noch immer niemand verraten hat, zu welchem Ziel sie führen soll, alles zu sehen bekommen. Da sind natürlich die hohen und schroffen Berge, die mir mein Vater erklärt und deren Gipfel er alle zu benennen weiß. Seine Leidenschaft für die Berge springt auf mich über und soll zu meiner eigenen werden. Aber da sind nicht nur Felstürme und Wände, wir fahren auch an tiefblauen Seen vorbei, ein Stück Weg führt sogar dem Meer entlang. Wir sehen goldgelbe Getreidefelder und saftig grüne Wiesen, auf denen Kühe stehen und grasen. Die Weisheit und Seele der ganzen Welt liegt in dem sanften Kuhblick und bin sehr froh, dass es auf dieser Reise nichts Tierisches zu essen gibt.

Und überall stehen Menschen am Weg. Viele von ihnen winken uns freundlich zu, den meisten sind wir jedoch egal, die kümmern sich lieber um ihre eigenen Angelegenheiten. Wir sehen schöne Dinge - Kirchtage und Menschen im Festgewand. Musikkapellen spielen zum Tanz auf. Menschen in Gastgärten, die sich angeregt unterhalten und ganz friedlich sind. Aber auch furchtbare Anblicke bleiben uns nicht erspart. Brennende Wälder und vom Hagel zerschlagene Felder. Zerlumpte und hungrige Gestalten humpeln uns entlang der Straße entgegen, und auf so manchem Dorfplatz sehen wir große, brutale Burschen auf Schwache und Greise einprügeln. Im Bus schauen wir uns dann betroffen an, aber niemand mag und niemand kann den Bus anhalten, damit wir aussteigen und uns einmischen. Unseren Buslenker scheint das Geschehen außerhalb seines Gefährts nichts anzugehen, er fährt unbeirrt seinen vorgeschriebenen Weg. Überhaupt scheint mir nun, dass er der einzige der ganzen Reisegesellschaft ist, der weiß, zu welchem Ziel die Reise führt. Ich bin mir nicht sicher, ob all die anderen Mitreisenden, die mit der Geburtstagsgesellschaft nichts zu tun haben, wissen, ob dieser Linienbus überhaupt die von ihnen anvisierten Haltestellen bedient.

Leicht berauscht genieße ich den Ausflug und verlasse zwischendurch meinen Platz, um mich bei meinen Freunden niederzulassen. Wir stoßen auf den schönen Tag an und schmieden Pläne. Immer wieder zeigt einer aus dem Fenster hinauf auf Gipfel und Felswände, wo wir noch nicht waren. Jeder erträumt sich immer neue und immer wildere Bergziele und stellt sich vor, wie er sich in den gestellten Herausforderungen bewährt.

In den vorderen Reihen fällt mir ein Mädchen auf, das mir gefällt, der Platz neben ihr ist frei. Ich reiße meinen ganzen Mut zusammen und frage, ob ich mich zu ihr setzen darf. Sie ist überrascht, lädt mich aber mit einem freundlichen Lächeln ein, den Platz neben ihr einzunehmen. Ein Gespräch kommt schnell in Gang, obwohl keiner von uns die Muttersprache des jeweils anderen spricht, darum unterhalten wir uns auf Italienisch. Und es fällt uns zunächst leicht, miteinander zu plaudern. Wir sprechen über dieses und jenes und lachen viel. Dann aber wird das Gespräch mühsamer und ich stelle fest, dass wir uns zu wiederholen beginnen. Schließlich bemerke ich, dass ich eigentlich auf dem Platz von jemand anders sitze. Traurig und ernüchtert stehe auf und verabschiede mich, um mich wieder in den hinteren Teil des Busses zu begeben, wo ich von Familie und Freunden fröhlich in Empfang genommen werde. Mein Bruder hat seinen teuersten Whisky für mich geöffnet und ich darf mit feuchten Augen mit ihm anstoßen.

Zwischendurch bleibt der Bus immer wieder einmal stehen. Mitreisende steigen aus, andere steigen zu. Angezogen von der feiernden Gesellschaft setzen sich manche zu uns und schließen mit uns Bekanntschaft. Dann erheben sich meine Eltern unerwartet von ihren Plätzen und streben dem Ausgang zu. Es war allerdings nicht der Finger meines Vaters, der den Haltewunsch-Knopf gedrückt hatte. Er umarmt mich noch einmal und sagt, dass er gern noch ein Stück mitgefahren wäre, aber seine Gesundheit erlaube es ihm nicht. Auch meine Mutter schließt mich noch einmal in ihre Arme und flüstert mir zu, dass es jetzt Zeit wäre, den Brief zu lesen. Ich bin verdattert und zutiefst traurig, dass meine Eltern mich jetzt schon verlassen. Zwar haben sie bereits zu Beginn der Reise angekündigt, dass sie mich nicht bis zum Schluss begleiten würden, nur habe ich es da nicht wahrgenommen, oder war nicht aufmerksam genug, es zu verstehen. Nachdem sich die Türen des Busses hinter meinen Eltern geschlossen haben, stürze ich zum Heckfenster, um ihnen zuzuwinken. Vater und Mutter stehen im Sonnenlicht und winken zurück. Mit zunehmender Geschwindigkeit und Strecke werden sie immer kleiner und verschwinden schließlich am Horizont. Ich setze mich und öffne den Brief, den mir meine Mutter zu Beginn der Fahrt zugesteckt hat. Sie spricht darin zu mir mit Worten bedingungsloser Zuneigung und Liebe. Der einzige echte Liebesbrief meines Lebens, wird mir klar.

Doch die Traurigkeit wird mit jedem Kilometer, den wir vorankommen, weniger. Die Stimmung im Bus ist anhaltend ausgelassen, aber wie bei jeder Feier verabschiedet sich mancher Freund früh, zu früh, wie ich finde. Der eine tut es unfreiwillig und mit Bedauern; andere haben noch etwas zu erledigen, versprechen aber, später wieder zuzusteigen und die Fahrt gemeinsam fortzusetzen. Es fällt schwer, das zu glauben, und in den meisten Fällen wird das auch trotz der besten Vorsätze nicht passieren. Aber ich habe Verständnis und es freut mich, dass wir wenigstens einen Teil dieses Tages gemeinsam verbracht haben. Die schönen Erinnerungen an die gemeinsam verbrachte Zeit kann uns schließlich auch keiner nehmen.

Versonnen und mit geschlossenen Augen sitze ich auf meinem Platz, in einem leichten Dämmerzustand nehme ich den ausgelassenen Lärm um mich wahr und erfreue mich an den Liedern, die gesungen werden. Die bereits tief im Westen stehende Sonne scheint beim Fenster herein, es ist warm und das leichte Schaukeln des Gefährts schläfert mich langsam ein. Bis ich auf einmal bemerke, dass der Bus langsamer wird und schließlich anhält. Mit einem Schlag ist es mucksmäuschenstill im Bus, nur das gleichmäßige Geräusch des laufenden Motors ist zu hören.

Herr Steidl, ihre Haltestelle, bitte aussteigen!

Über mir steht, auf die Banklehnen gestützt, der Busfahrer und blickt mich aus leeren Augenhöhlen, freundlich - fast grinsend - an.

Aber… wieso? Ich bin doch die Hauptperson, diese Reise ist mein Geschenk! Sie können doch nicht ohne mich weiterfahren und den Tag ohne mich feiern!

Alle im Bus, Familie, Freunde und Bekannte, sind schockiert und holen aus, um gegen meinen Ausschluss von der Fahrt zu protestieren. Aber der knochige Buslenker hebt herrisch die Hand und heißt sie schweigen.

Ich weiß nichts von einer Geburtstagsfahrt, dies ist ein regulärer Linienbus und Sie sind einer von vielen Fahrgästen. Ihre Fahrt wurde bis hierher bezahlt, das Guthaben ist aufgebraucht und demnach ist dies der Ort, an dem Sie aussteigen.

Nervös krame ich in meinen Taschen, von denen ich bereits weiß, dass sie leer sind.
Kann ich aufzahlen? Wieviel kostet es, damit ich die Fahrt weiter mitmachen kann?

Rund um mich wird in den Taschen und Geldbörsen nach Geld gekramt und dem Busfahrer vor die nicht vorhandene Nase gehalten. Aber dieser winkt, weiterhin freundlich grinsend, ab.

Das Ticket wurde für Sie bereits vor Antritt der Fahrt gelöst. Leider ist beim Fahrer keine Zahlung möglich. Bitte verlassen Sie Ihren Platz und begeben Sie sich zum Ausgang. Glauben Sie mir, Sie sind angekommen.

Ich erhebe mich mit weichen Knien und schiebe mich am Fahrer vorbei Richtung Ausgang, mit dem beschämenden Gefühl, soeben hinausgeworfen zu werden. Im Bus herrscht immer noch betretene Stille. Alle haben sich von den Plätzen erhoben und blicken mir fassungslos nach. Ehe ich die Stufen des Ausgangs hinuntersteige, drehe ich mich noch einmal zum Knochenmann um und frage: Sie setzen mich mit nichts in den Taschen hier aus. Wie komme ich jetzt heim? Wann kommen Sie zurück, um mich wieder dorthin zu bringen, wo ich zugestiegen bin? Wie und wo kann ich für die Fahrt zurück bezahlen?

Mein Busfahrer, der mir vorher noch nie aufgefallen ist, obwohl mir diese Buslinie und somit auch er bekannt sein müssten, wendet sich auf dem Weg zum Fahrersitz noch einmal um.

Sie müssen nirgendwohin zurück, wie gesagt, sie sind angekommen. Ob das Ihr Daheim ist? Ich weiß es nicht. Sie steigen aber nicht leer aus. Sie haben auf dieser Fahrt reichlich genossen, Sie haben Zuneigung, Freundschaft und Liebe erfahren, man hat Ihnen Wissen, man hat Ihnen Musik beigebracht. Und Sie durften eigene Gedanken entwickeln und sich Geschichten ausdenken! Sie hätten mehr aus dem Fenster schauen sollen, dann hätten sie gesehen, wie reich im Vergleich zu anderen Sie diesen Bus verlassen.

Die Türen des Busses schließen sich. Im Heckfenster sehe ich Gesichter auftauchen, vor allem die meiner Geschwister, und Hände, die mir zuwinken. Manche versuchen mir noch etwas zu sagen, aber ich kann die Worte der sich öffnenden und schließenden Lippen nicht entziffern. Der Bus fährt an und ich beginne ebenfalls, heftig zu winken und zu rufen. Ein paar Meter laufe ich noch dem sich entfernenden Gefährt nach, das rasch meiner Sicht entschwindet. Ich bleibe allein zurück, eingehüllt von Dieselabgasen und den Nebelschwaden, die von den in der Abenddämmerung liegenden Wiesen aufsteigen. Kein Ton ist mehr zu hören. Ich werde ruhig und müde nach dem langen Tag und sinke auf - nein, in den Boden. Eine weitere traumlose Nacht steht bevor. Aber über mir kann ich die Sterne aufgehen sehen. Und ich stelle fest, der Steuermann hatte recht: ich bin angekommen.

Licht und Schatten an den Hängen der Reiteralm
Immer wieder gut für einen kleinen aber feinen Nachmittags-Ausflug: die Reiteralm. Ist der Schnee gut, kann man die Almhänge auch zwei, dreimal hinaufgehen und wieder herunterfahren.
Ein roter Ballon über der Maukspitze
Die erste Skitour Anfang Dezember ist eine der besten meines Lebens. Im Spielberggebiet liegt traumhafter Pulverschnee, aber keiner mag noch so recht glauben, dass es bereits genug davon gibt. Nach der Abfahrt vom Sunnkegei zur Jägermeisterhütte felle ich wieder auf und spure über Scheltau und Torrinne auf das Kuhfeldhörndl. Mutterseelenallein darf ich mich dem Tiefschneerausch hingeben und sogar noch das Schwarzleotal bis ganz hinaus rutschen, ohne die Ski abschnallen zu müssen.
Im Dürrkar
Irgendwann ist es doch Zeit, auch einmal etwas anderes zu sehen. Mit Hermann geht's Anfang Februar in das Dürrkar. Mit Hermann erfüllt sich ein Monat später auch ein lang ersehnter Traum: die meist lawinösen Hänge des Lahnerhorns haben dieses Jahr eine sichere Firnauflage und so können wir ebenfalls eine der seltenen Eintragungen in das Gipfelbuch dieses unscheinbaren Gipfels in den Leogangern machen und uns dem Vergnügen einer Steilabfahrt durch die Rinne entlang des Felspfeilers hingeben.
Am Grießner Hochbrett
Ich kann mich auch nicht erinnern, so oft allein unterwegs gewesen zu sein wie dieses Jahr. Meiner virtuellen Skitourenpartnerin Susi sei Dank traue ich mich aber doch auch in entlegenere Ecken, ohne Angst, dort unauffindbar verloren zu gehen: einmal mehr mutterseelenallein vom Pletzergraben aus auf den Bischof und weit ausholend unter Bischof und Mahdstein zurück zum Auto, zum Beispiel, oder in den ersten Tagen des Ukraine-Kriegs auf das Grießner Hochbrett.
Rückblich auf das Grießner Hochbrett
Am Grießner Hochbrett ruiniere ich mir beinahe meine nagelneuen Ski. Das Geröllfeld von der Jungfrau auf das Rotschartl ist abgeblasen. Todmüde vom mühsamen Aufstieg schwinge ich auf einem Felsblock ab und reiße ein tiefes Loch in den Belag. Die Rückkehr nach Hochfilzen entwickelt sich schließlich zur Tortur. Der härteste Tourentag in diesem Winter.
Der Spielberg von der Nordseite
Einmal kehre ich noch auf für mich neuen Pfaden zum Spielberg zurück. Mit dem Bus nach Hochfilzen, von dort über die Grießner Almen und den Schreckkopf über den Nordgrat auf den Spielberg. Danach auf steilen Firnfeldern in den Nordkessel. Im Anblick der Kuglerkapelle wird wieder aufgefellt und es geht zurück Richtung Hütten. Auch an diesem Tag werde ich keines anderen Menschen ansichtig.

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