Mein Schitourenwinter nimmt fast immer seinen Ausgang hier, am Sunnkegei.
Diese Bäume begleiten mich praktisch schon mein ganzes Schitourenleben.
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Frierst du?
Mhm.
Komm, setzen wir uns an die rechte Seite, vielleicht ist es dort etwas wärmer.
Die tief im Westen stehende Sonne war nur als unscharfe Scheibe sichtbar. Die wenige Wärme, die von ihr durch den fahlen Himmel bis zum Boden
gelangte, wurde sogleich von der leichten Brise, die unaufhörlich durch das Tal zog, fortgetragen. Es war Mitte November.
Er blickte sich um, der der Sonne zugewandte Platz am Bretterverschlag der Bushaltestelle, der von der nackten Hässlichkeit eines Mobilfunkmasts gekrönt wurde, war schäbig.
Sie hockten an die Wand gelehnt dort, wo der graue Asphalt des Parkplatzes in den staubigen Schotter überging, der das Fundament des Wartehäuschens bildete.
Er hatte den Platz ausgesucht, weil das dunkelbraun gebeizte Holz etwas Wärme verhieß, aber dem leichten Luftzug von Westen war nicht zu entkommen,
an der Südseite ebenso wenig wie an allen anderen Seiten der Hütte, egal wie eng sie sich auch an das Holz drückten.
An diesem Sonntagnachmittag wartete niemand mehr auf einen Bus, denn die letzte Tour war bereits vor einer Stunde leer an dieser Station vorübergefahren.
Er nahm die Decke und wickelte sie ihr noch enger um die schmalen Schultern, um ihren ausgezehrten Körper. Sie ließ es dankbar, aber ohne Regung geschehen.
Dann saßen sie wieder wortlos an die Bretterwand gelehnt nebeneinander und versuchten mit geschlossenen Augen doch noch etwas von den wärmenden Strahlen der
späten Nachmittagssonne zu erhaschen.
Du wirst gehen, und ich kann nichts dagegen tun , dachte er.
Er wusste, dass ihr Fortgehen unausweichlich war und nichts mit ihm oder ihrem innigen Verhältnis zueinander zu tun hatte.
Aber der Kälte, die in diesen späten Tagen von allen Seiten ins Tal und in ihr Leben kroch, wohnten große Kräfte inne, viel größer, als sie sie aufbringen konnten, um sich dagegen zu stemmen.
Die Berge hinter ihnen waren nur mehr sommerwarme Erinnerungen, jetzt unerreichbar unter der Decke der ersten Schneefälle, die bereits weit herunter in
die Niederungen reichte.
Gehen wir nach Hause, die Sonne verschwindet ohnehin gleich hinter dem Palfen.
Was für ein seltsames Gefühl, zu wissen, dass man einen vertrauten Weg zum letzten mal gemeinsam geht. Sie waren den ganzen Tag keiner Menschenseele begegnet,
die wenigen Bewohner des Tals hatten sich bereits in ihren Häusern eingeigelt und schienen nur auf den endgültigen Beginn des Winters zu warten, um aus der Totenstarre der
Zwischensaison zu erwachen und sich in den tobenden Wirbel der Weihnachtszeit zu stürzen. Wie oft waren sie Hand in Hand den alten Weg entlang des Bachs ihrem Haus entgegen geschlendert?
Hatten in die Lichtreflexe der sich auf- und abwiegenden Wasserwirbel im Gegenlicht der tiefstehenden Sonne geblickt? Auch heute standen die alten Bäume am Wegesrand und
tauchten den Weg in geheimnisvolle Dämmerung. Im trüben Licht des späten Nachmittags waren die Tannen und Fichten seltsam schweigsam, anstatt wie sonst mit einer beredten Stummheit zu ihnen zu sprechen.
Beim gemeinsamen Abendessen herrschte vertraute Stille. In Decken gehüllt löffelten sie mit wenig Appetit ihre Suppe. Er nahm jede ihrer Bewegungen in sich auf. Die Art, wie sie den
Löffel hielt, schien ihm anmutig, so wie sie ihn zum Mund führte geradezu anbetungswürdig. Und dann zauberte sich ein Lachen in ihrer beider Gesichter, als sie bemerkten, wie ihnen beiden,
ihr ebenso wie ihm, ein Tropfen von der rinnenden Nase in den Suppenteller vor ihnen fiel. Und eine Träne. Da lächelten sie sich beinahe verschämt an, wie in der Zeit, als sie
zusammenkamen und glaubten, einer würde am anderen wegen so etwas Anstoß nehmen. Sie schob ihre frierende Hand unter seine.
Wie herrlich das ist, wenn diese großen, dunklen Augen lachen, dachte er.
Er betrachtete ihr Gesicht. In dieser Landschaft konnten seine Augen ziel- und zeitlos umherwandern, nie würden sie sie vollständig durchstreift und erforscht haben. Es schien ihm, als
hätte er nie ihre Züge zweimal mit dem selben Blick gesehen. Er frage sich, wie leer das Haus ohne dieses Gesicht, ohne ihren Körper sein würde. Er frage sich auch, wie still es ohne ihre Schritte, ohne
das Geräusch ihres Atmens sein würde,
wie stumm, wenn die Räume nicht mehr ihre Worte zu ihm tragen würden. Er fragte sich auch, welchen Geruch es nach einer gewissen Zeit ohne ihre Anwesenheit annehmen würde.
Beim Eintreten war es stets seine Nase gewesen, die als erstes ihre warme, geliebte Anwesenheit wahrgenommen hatte.
Du weißt, dass ich nicht mit dir gehen kann , durchbrach er endlich die Stille.
Werden wir uns wiedersehen? , flehte er.
Es zerreißt mir das Herz zu sehen, wie du frierst. , weinte er stumm.
Er zog einen zerknitterten Zettel aus seiner Brusttasche und begann vorzulesen:
Könnt' ich doch die Sonne sein,
und wärmen dich mit meinem Schein,
ich wär dann zwar unendlich fern,
doch auch sehr nah, ich wär' dein Stern.
Wär' ich ein glühend' Scheit aus Holz,
ich täte mit dem größten Stolz,
für dich zu Asche mich verbrennen,
dir Wärme, Licht und Tröstung spenden.
Als Blut durch deine Adern schießen,
heiß Hand und Herz würd' ich durchfließen,
schlöss' pulsend jede Wunde dir,
kost' es auch jeden Teil von mir.
Doch nichts von dem kann ich dir sein,
nicht Blut, nicht Glut, nicht Sonnenschein,
bin keiner, der dir Wärme gibt,
ich bin nur jemand, der dich liebt.
Sie lächelte ihn an. Ob sie sein Gedicht lächerlich fand?, fragte er sich. Aber er wusste, dass es nicht so war, sie hatte jeden Ausdruck seiner Zuneigung stets ernst
genommen und ihn aus tiefstem Herzen geliebt, vielleicht sogar mehr als es jemals umgekehrt der Fall war, und sogar das empfand er als schon beinahe maßlos.
In dieser Nacht war an Schlaf nicht zu denken. Nach drei Stunden totenartiger Ruhe schlug er die Augen auf und war hellwach.
Sie lag von ihm abgewandt auf der Seite und atmete ruhig. Wahrscheinlich suchten aber auch ihre Augen im Gedankenstrudel und der Dunkelheit des Zimmers einen Anhaltspunkt.
Das gelbe Licht einer Straßenlaterne vor dem Haus wurde von den Lamellen des Fensterladens in dünne Streifen gehackt und zeichnete sich als horizontales
Gitter auf der Wand ab. Eine fürchterliche Nacht stand ihm bevor, ein endloses Grübeln und Kreisen der Gedanken, das bis zum Morgen nicht mehr von
der Bewußtlosigkeit des Schlafs gnädig unterbrochen werden würde. Bei aller Unruhe war er aber zum Stillliegen gezwungen, anstatt sich im Bett hin- und herzuwälzen,
denn das hätte sie bestimmt aufgeweckt. Aufstehen und in ein anderes Zimmer gehen wollte er aber auch nicht, um ihr nicht die Wärme seines Körpers zu entziehen.
So versuchte er, still zu liegen und sich die Bilder des vergangenen Sommers in Erinnerung zu rufen.
Zwischen den dunklen Gedanken dieser Nacht tauchten dann goldene Sonnenaufgänge auf, die sie eng umschlungen und ohne weiteren Schutz vor der Kühle der Nacht als den, den sie sich gegenseitig gaben,
erlebten. Sie verbrachten die ganze Zeit miteinander, ohne jemals der Gegenwart des anderen überdrüssig zu sein. Die heißen Sommertage waren ausgefüllt und sättigend,
die Regentage daheim ein Fest, wenn sie mit einer Tasse Tee am Tisch beim Fenster saßen und durch die Scheiben dem An- und Abschwellen der Myriden von Wassertropfen zusahen.
Dem Näherkommen des Herbstes sahen sie ohne Bangen entgegen.
Wie intensiv und erfüllt diese Tage waren.
Wie leer und trüb sich die bevorstehende Zeit bereits jetzt anfühlte.
Am folgenden Morgen nach dieser endlosen Nacht standen die Wolken tief und grau am Himmel. Noch einmal - ein letztes mal - waren sie gemeinsam am Tisch gesessen.
Stirn an Stirn und Hand in Hand waren sie dagesessen, im hilflosen Versuch, das bisschen Zeit, das ihnen noch blieb, anzuhalten.
Nun aber blickte er ihrer dünnen Gestalt nach, die sich langsam von ihm fortbewegte. Er stand am Gartentor, unfähig diesen eingezäunten Ort, der einmal ihr Paradies gewesen war, zu verlassen.
Für ein paar Augenblicke würde er ihr noch folgen können, bevor sie endgültig hinter der Wegbiegung verschwunden sein würde. Von dort erreichte sie dann in wenigen Minuten die Station,
wo mitleidslose Hände ihr auf die Ladefläche eines Lastwagens helfen würden, der sie aus dem Tal bringen und sie somit wenigstens der ewigen Kälte entfliehen lassen würde.
Sie würde sich nicht dagegen wehren. Sie hatte nichts mitgenommen, ging ohne Rucksack, ohne Koffer in eine Zukunft, an der er nicht mehr teilhaben durfte.
So sah er sie zum letzten mal, den schönen Kopf tief gesenkt zwischen den hochgezogenen Schultern. Auch aus der Entfernung konnte er erkennen, wie etwas ihren Körper immer
wieder erschütterte, doch drehte sie sich kein einziges mal mehr nach ihm um. Er versuchte ihr nachzurufen, doch etwas würgte seine Kehle und ließ kein Wort zum Abschied mehr zu.
Er wollte ihr nachwinken, doch
der Arm hing wie gelähmt an seinem Körper herab. Das wilde Tier in seinem Inneren war in Aufruhr, hätte es den Käfig seines Leibs sprengen können, es hätte sich brüllend
aus ihm gestürzt. So aber schlug es sich an den Gitterstäben seines Gefängnisses blutende Wunden, die nie mehr heilen würden. Vor seinen nassen Augen begann ihre Gestalt zu verschwimmen,
bevor sich die Tropfen des einsetzenden kalten Novemberregens mit seinen Tränen vermischten und ihn erbarmungsvoll endgültig erblinden ließen.
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