Maledetta Fortuna

Terlago

Eine Zwischenbilanz

Ich bin 38 und trage immer noch am liebsten kurze Hosen. In einem Alter, in dem ein gesetzter Mensch gewichste Lederschuhe zum Sakko tragen sollte, bevorzuge ich Turnpatschen zu ausgewaschenen T-Shirts, nicht aus rebellischer '68er Gesinnung (einem Hauch derer ich vielleicht ja auch meine Existenz verdanke), sondern weil mir nie etwas anderes in den Sinn gekommen ist. Als wertvollstes Kleidungsstück erachte ich einen bleichblauen, sehr warmen und robusten Salewa-Anorak von 1983, das Geschenk des Vaters an seinen damals durchaus zu Hoffnungen berechtigenden, 14-jährigen Sohn. Welche Enttäuschung muss es für ihn bedeuten, mich heute auch noch darin zu sehen? Und obwohl ich als Brillenträger im Winter wie ein Clown ausschaue, wenn ich meine Haube aufsetze, kommt ein Hut für mich ja doch nicht in Frage. Mein Äusseres mag vieles sein, aber bestimmt ist es nicht respektgebietend oder gar elegant. Ein einziges mal habe ich mich einem Modediktat gebeugt und mich zu einer Jeans-Hose Stil "bootcut" hinreissen lassen. Die Verkäuferin meinte natürlich, dass sie mir ausgezeichnet stehen würde, aber es ist dies die einzige Hose, die mir niemals gepasst hat und die ich auch nie angezogen habe.

An den Wangen ist der Bartwuchs zwar immer noch spärlich, aber ich habe bereits die ersten grauen Bartstoppel am Kinn entdeckt. An den Schläfen machen die braunen immer mehr den grauen Haaren Platz; schlimmer noch, ist es doch eine traurige Wahrheit, dass die Haare aus den Ohren und der Nase inzwischen dichter wachsen als auf dem Kopf. Und obwohl ich bestimmt nicht dick bin, sitzt inzwischen auch schon eine kleine Speckfalte hartnäckig auf Höhe meines Bauchnabels und umfasst meine Körpermitte, quasi ein Mini-Schwimmreifen um einen großen, eckigen Brustkasten, der auf den gleichen, seit eh und je zu dünnen Beinchen ruht.

Ich sehe in der Zeitung in der Rubrik "Karriere" die Fotos der Aufsteiger in Politik und Wirtschaft, lese deren Alter, nur um erstaunt und befremdet festzustellen, dass sie fast ausnahmslos jünger sind als ich, aber in der Gesellschaft schon diese bedeutenden Positionen und Posten einnehmen. Ich will nicht leugnen, dass, wenn ich mir die Bilder dieser Leute anschaue, ich auch eine gewisse Befriedigung in mir spüre, weil ich mich trotz allem besser gehalten habe als sie, mit den hohen Haaransätzen über den stets modernen Brillen, den feisten Gesichtern und dieser Haut, die oftmals so weiss, fast schon durchsichtig ist, die kurzum so alt aussehen, dass ich es gar nicht glauben kann, dass ich mich als Kind geweigert habe, mit ihnen zu spielen, weil sie mir nicht alt genug waren. Ich verweigere mich dem Erfolg ja nicht, aber so wie es aussieht, muss ich mich schon sehr beeilen, wenn aus mir noch etwas Bedeutendes werden soll.

Die Nachbarn grüßen mich freundlich und lachen mir mit einem Kopfnicken zu, wenn sie mich am Wochenende mit dem Rucksack in die Wälder aufbrechen oder aus den Bergen heimkommen sehen, viele halten mich immer noch für den Studenten, der ich einmal war, und sehen mich wie einen in einer Zeitblase Gefangenen an; wenn ich sie daran erinnere, dass ich schon seit vielen Jahren arbeite anstatt zu studieren, fallen sie manchmal aus allen Wolken. Vielleicht halten sie mich für einen Spinner, was nicht unwahrscheinlich ist; aber am Land nimmt der Spinner ohnehin eine, wenn vielleicht auch nicht geachtete, so doch wichtige Gesellschaftsposition ein. Es könnte sein, dass in meinem Dorf diese Rolle mir zugedacht ist, bin ich ja doch wirklich ein Verrückter.

Diesen und anderen Gedanken hänge ich nach, während ich unter dem ewigen Sternenhimmel in meinem Schlafsack liege, dem treuen Begleiter seit nunmehr zwanzig Jahren. In der Nähe markieren sieben Haken ein Stück Fels, dessen wegen wir unter anderem hierher gekommen sind. Was ich für das Wochenende brauche, habe ich in meinem Rucksack dabei, und das ist ausser dem Kletterzeug nicht viel. Mein Kopf ruht weich auf dem bleichblauen Anorak, und um mich gegen die die Kälte zu schützen, lasse ich die Haube einfach auf.

Und für diejenigen, die es interessiert: nein, ich habe es nicht geschafft. Maledetta Fortuna war mir bei diesem Ausflug zu schwer.

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