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Parallelwelten
Es ist still, so still, dass nur das leise Knistern der Schneekristalle, die auf den Anorak fallen, zu hören ist.
Nicht einmal des Geräusch des eigenen Atmens dringt bis zu den Ohren, alles wird von der in Nebel und Schnee getauchten Welt
verschluckt, Laute ebenso wie die Bilder der Landschaft rundum. Den Kopf auf die Knie gelegt lausche ich mit
geschlossenen Augen der fast
absoluten Stille. Es sind die friedlichsten Minuten des Tages im Büro, so früh am Morgen, die Kollegen kommen erst später
und der Computer unterm Tisch ist ein ausgesprochen leises Modell. Die klappernde Tastatur beim Anmelden bildet
schließlich die erste Lärmquelle innerhalb dieser vier Wände an diesem noch jungen Tag. Das email Programm startet
automatisch und es ist auch schon eine neue, ungelesene Nachricht dabei. Ein Seufzen, ich kann mir schon vorstellen, was drinnen steht:
Lawinenwarnstufe 3, ungünstiger Schneedeckenaufbau, Hänge der Richtungen Nord über Ost bis Süd sind besonders gefährdet.
Wo werden wir also abfahren? Wir haben noch etwas Zeit, das zu entscheiden, denn jetzt wird erst einmal gejausnet. In unsere dicken
Jacken gehüllt und mit der Kapuze am Kopf sitzen wir auf den Rucksäcken und verzehren, was wir uns in der Früh für
diese paar Minuten am Gipfel zurechtgelegt haben. Ganz hoch im Kurs dieses
Jahr sind getrocknete Apfelspalten. Wie seltsam, fast nie in den Jahren zuvor haben mich die garantiert biologischen Äpfel aus
unserem Garten besonders angelockt, noch viel weniger, wenn sie nach einigen Wochen Lagerung im Keller etwas runzelig geworden
sind. Das Geheimnis besteht darin, die Früchte zu vierteln und vom Kerngehäuse und eventuell braunen Stellen zu befreien, sodass man
nicht gezwungen ist, sich rund um das Gehäuse herum zu nagen, sondern immer herzhaft große Bissen zu sich nehmen kann.
Das auch nach Wochen und Monaten noch makellose Weiß des Inneren
und die mundgerechte Größe lassen das fleckige, unansehnliche Äußere leicht vergessen. Etliche Winterabende habe ich auch
damit zugebracht, jeweils ein Dutzend Äpfel, nach Sorten bunt gemischt, zu waschen, in Apfelringe zu schneiden und auf Schaschlik-Spießen
aufgereiht über dem Heizkörper des Wohnzimmers zu trocknen. Schmatzend und selbst ganz begeistert gebe ich meinem Bürokollegen
eine Kostprobe, die er nicht ausschlägt. Er hat Landwirtschaft studiert und wohnt in Oberösterreich auf einem
Bauernhof. Sein Weg zum Programmierer in der Stadt Salzburg war nicht unbedingt ganz geradlinig, wie ich im Zuge eines
der seltenen Gespräche erfahren habe, in denen es um Privates ging.
8% Feuchtigkeit, erklärt er mir, dürfen die Trockenfrüchte noch haben, sonst schimmeln sie. Die Frage nach der
Sorte kann ich ihm leider nicht beantworten. Ein Apfel-Erkennungs-Programm hätte er gern einmal geschrieben, sagt er, es
gibt soviele Merkmale, an denen man die unterschiedlichen Sorten erkennen kann. An diesem Apfel findet er die glänzende,
fettige Schale besonders auffällig. Das Wachs auf der Oberfläche muss nämlich immer sorgfältig ausgebürstet werden,
erklärt er mir, sonst bleibt es am Steigfell picken und man hat gar nichts davon. Ich habe meine Ski immer schlecht behandelt,
denke ich, alle zwei Jahre haben sie ein professionelles Service bekommen, und einmal pro Saison vielleicht auch eine ordentliche
Portion irgendeines Wachses, sehr heiß eingebügelt, aber das war auch alles.
Wenn ich will, dann soll ich ihm am Ende der Tour die Ski einfach mitgeben, auf dieses eine Paar komme es auch nicht mehr an,
wenn er am Nachmittag die Ski aller Familienmitglieder im eigens dafür ausgestatteten Wachskeller auf das Feinste präparieren wird.
Ich danke beschämt. "Darf ich dir dafür einen Gipfelschnaps anbieten?"
Alle bis auf einen Kollegen drücken schweigende Missbilligung aus sowohl was die Einladung als auch den
Anblick der kleinen grünen Flasche Bier, auf die ich nach dem Mittagessen Lust bekommen habe, angeht. Als ich vor ein paar Jahren
in der Firma frisch angefangen hatte, war der Kühlschrank auffällig gut mit solchen kleinen grünen Flaschen gefüllt. Man stünde
öfter einmal während und nach der Arbeitszeit zusammen und trinke einen gemeinsamen Schluck, wurde mir erklärt, das gehöre zur
Firmenkultur. Inzwischen ist der Firma anscheinend die Kultur abhanden gekommen, nur manchmal trinken wir am Abend noch zu zweit ein Bier, wenn
wir die technische Ausrüstung der Firma für unsere Zwecke nützen und uns einen Kletterfilm anschauen. Viel an dem Umschwung
liegt wahrscheinlich daran, dass die
ehemals "Jungen" als junge Väter und Mütter, Häuslbauer oder Eigentumswohnungserwerber plötzlich gar nicht mehr so jung und
locker wie ehedem sind. Und einige andere die Stelle gewechselt haben. Ein starker Espresso, auf den das Mittagessen
ebenso Lust gemacht hat wie auf das Glas Bier, neutralisiert dessen einschläfernde Wirkung und lässt mich die folgende, schwierige
Diskussion mit frischen Kräften angehen. Es herrscht nämlich, wie befürchtet, Uneinigkeit darüber, welche Abfahrt
wir nehmen sollen, den genussversprechenden steilen, eingeblasenen Hang oder doch besser den längeren aber dafür sicheren Umweg.
Es sind Diskussionen, die ich nicht gern führe, wenn mir nämlich die Argumente fehlen und ich eigentlich nur dem Bauchgefühl folgen
will. "Schau dir den Hang an, was soll da sein?" - "Es hat aber Lawinenwarnstufe 3!" Ich bin mir selber nicht sicher und
gebe das Dagegenreden auf - "Machen wir es so, wie du meinst." Obwohl ich immer noch der Meinung bin, es wäre sauberer,
wir würden eine eigene message zum broadcast an regstrierte listeners im message center triggern - wie ich dieses Denglisch
immer schon gehasst habe und immer noch hasse! -
werde ich nicht darauf beharren und stattdessen ein delegate property anlegen, weil es ja eigentlich eh wurscht ist.
Der Prototyp, an dem wir arbeiten, wird nur für einen einzigen Anwendungsfall programmiert und der Code wird nicht
weiterentwickelt werden, weil schon wieder neue Aufgaben, sogenannte tasks, warten. Man hat es mir gesagt und es war von Anfang an klar,
dass es sich um eine sehr abwechslungsreiche Tätigkeit handeln würde: meditatives Wandern durch verschneite Wälder,
lange Hochtouren mit glasklaren Ausblicken auf einen Hundert Kilometer entfernten Horizont, rassige Anstiege durch Felsen hindurch, bei denen
die Ski und Steigeisen ihren Platz am Rucksack tauschen, gute Bedingungen, Pulverschnee, schlechtes Wetter, Bruchharsch,
manchmal allein unterwegs, oft in einer großen Gruppe... auf jeden Fall immer gern, meistens motiviert, immer mit Freunden,
stets ohne Reue. Und von hier weg finde ich den Gedankensprung zurück in mein Büro nicht mehr.
An jedem Morgen der Woche kommt der Augenblick des Aufwachens, ich bin schon munter, aber die Augen sind noch zu.
Jeden Moment werde ich sie öffnen. In welche Wirklichkeit werde ich dann schauen? In eine, in der ich sein will,
oder in eine, in der ich sein muss. Und kann ich die beiden unterscheiden?
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