Mythomania

Hurra, heute ist das Eine-Woche-Jubiläum unserer Begehung! Prost Mythomania, prost Hans, prost Stopper Nr.2!

Mir fällt eine Szene aus dem Film "Backdraft" ein. Der vom Feuer traumatisierte Feuerwehrmann William Baldwin sitzt dem eingesperrten, irren Brandstifter Donald Sutherland gegenüber und hofft, von ihm Informationen über einen freilaufenden Attentäter zu bekommen. Das geht natürlich nicht ohne Psychospielchen ab, und so wird William Baldwin zuerst einmal gezwungen, etwas von seinem Seelenleben preiszugeben. An einer Stelle dieser Schlüsselszene will der Brandstifter Ronald schließlich wissen, ob "das Feuer ihn angesehen habe". William Baldwin blickt in's Leere und schweigt vielsagend, und Donald Sutherland bekommt daraufhin große Augen und einen noch irreren Gesichtsausdruck. Offensichtlich wurde er selbst schon vom Feuer angesehen und der Zuseher wird Zeuge des Zusammentreffens zweier artverwandter Seelen. Während die beiden Schauspieler sich nun in einem Zustand gegenseitigen Verstehens befinden, das keinerlei Worte mehr bedarf, fühlt sich der Zuschauer ausgeschlossen, denn er war üblicherweise noch nie inmitten einer Feuersbrunst, konnte somit von den Flammen auch noch nicht eines Blickes gewürdigt werden. Er spürt aber, dass da etwas Großartiges im Spiel ist. Da sitzt er dann und fragt:"Was ist es?! Wovon ist die Rede?"

Mit der Mythomania ist es so ähnlich. Wenn sich zwei Mythomania-Begeher treffen, dann tauschen sie irre Blicke aus und schweigen beredt: "hat sie dich auch angesehen? Ooohhhh..." Wie im Film wäre es sinnlos, das große Geheimnis lüften zu wollen. Würde man es versuchen, dann käme ein Leser am Ende noch auf die Idee zu behaupten, "Ah, ich verstehe" und dann wäre es erst ganz verkehrt. Darum soll Schweigen über das gebreitet werden, worüber man nicht sprechen kann. Nur soviel: es geht tatsächlich um etwas Großartiges.

Stattdessen möchte ich etwas über meinen Seilpartner sagen.

Wie nahe kann man einem Menschen eigentlich kommen? In diesem Fall weiß ich es ziemlich genau: 60 Meter. Hans an einem Seilende, ich am anderen. Mit diesen 60 Metern steht mir Hans näher als die meisten anderen Menschen. Ich vertraue Hans, denn Hans hat Erfahrung. Wenn Hans sagt, das schaffen wir, dann schaffen wir das. Wenn Hans sagt, der Stand ist gut, dann ist der Stand gut. Wenn Hans eine Zwischensicherung für in Ordnung befindet, dann kommt der Wunsch auf, da sofort hineinzufallen. Und wenn ich fallen sollte, dann wird mich Hans halten.

Hans steht ein paar Meter über zwei windigen, mit einer Reepschnur verbundenen Haken endlich im Riss. Wenn er vorher rausgefallen wäre, dann wäre er in die Schlucht der Asche-Lucke und von dort möglicherweise gleich gen Himmel geflogen. Hans verschafft sich mit dem großen Hexentric im Riss Luft und kann jetzt seine Umgebung begutachten. Ist es sein leicht panisches "Da geht's nit weiter. Was tua i jetzt?" oder der kleine Schneehaufen zu meinen Füßen, der mich frösteln läßt? "Hmm. I woaß a nit..." Gedanken fliegen durch den Kopf: Mach nichts Unüberlegtes, Hans, klettere zurück und lass den Hex oben. Dann seilen wir ab oder klettern ein paar Meter links über die Bohrhaken der Bodenlos zum Ausstieg. Weitere Zwischensicherungen finden mehr schlecht als recht einen Platz, zuletzt schlägt Hans einen Haken, der sich nach wenigen Zentimetern nicht mehr weiter in den Fels treiben läßt. Die Hakenöse schaukelt lustig im Wind - bildlich gesprochen. "Hans, wie schaut's aus?" Hans, es ist immer noch Zeit, gehen wir einen sicheren Weg, vielleicht bist du ja wirklich mitten in einem fürchterlichen Verhauer. Hans wirft einen Blick auf's Topo, überzeugt sich davon, dass er auf der richtigen Linie sein muß! Er lacht laut auf:"Boah, das sind wilde Hund', keine Haken..." Er steigt mit Bedacht nach links, auf einen Felszacken zu. "Stefan, du bist doch ein großer Freund von Felsköpfeln?!" "Ja, Hans, sicher!" Ja, Hans, schon, aber nicht, wenn wir da beide mit vollem Gewicht dran hängen.
Hans macht Stand und eine große Freude und Gewissheit durchströmen mich plötzlich: wir werden diese Route fertig klettern. Hätte er wenige Minuten vorher das Handtuch geschmissen, oder "gepanict", wie Hans es zu nennen pflegt, ich wäre nicht zu Aufmunterungen oder Ansporn fähig gewesen. Wir wären geflüchtet und hätten nicht den Geist der Mythomania in uns aufgesogen. Wir hätten nicht dieses unbeschreibliche Glück und die großen Emotionen erfahren. Für den Schubs, den Hans sich selbst auf der unüberwindlich geglaubten Platte gegeben hat, und mir gleich mit, bewundere ich ihn und bin ihm dankbar. Auch das halte ich für eine von Hans' Qualitäten.

Und soll jetzt keiner sagen:"Ah so, ich glaube, ich ahne, was es ist!"

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