Juli 2009: ich habe das alte Gipfelkreuz vom Dreizinth für die Jubiläumsausstellung des Alpenvereins geborgen.
In der Großen Saugrube bin ich noch eingermaßen lustig und möchte einen Selbstauslöser von mir als Kreuzträger schießen.
Das Foto misslingt und ich durchlebe ab diesem Zeitpunkt einen der erschöpfendsten Tage meines Lebens.
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Die beiden Männer standen sich am Gartenzaun gegenüber. Der eine auf der Seite der Straße, ein Mitarbeiter der Straßenbauverwaltung, hatte dem
anderen auf der Seite des Gartens gerade die Mitteilung überbracht, dass man für den zweispurigen Ausbau der Straße ein Stück ebendieses Gartens benötigte,
und zwar just jenes Eck, auf dem der einzige Apfelbaum des Grundbesitzers stand.
Dieses Garteneck stellte ein verkehrstechnisches Ärgernis dar, das vorbeifahrende LKW zu lästigen Lenkmanövern zwang,
für das die Straßenbauverwaltung kein Verständnis mehr aufbrachte, zumal das Straßenbaubudget dieses Jahr gut gefüllt war und geradezu nach
Bauprojekten schrie, um ausgegeben zu werden.
Der Beamte bedauerte zwar, dass ausgerechnet er der Überbringer so unerfreulicher Nachrichten sein musste, und dieses Bedauern war echt, aber es gäbe leider keinerlei
Gründe für eine Umplanung, die diesen verlassenen Ortsteil von L. mitsamt seinem letzten Bewohner in Form einer Umfahrungsstraße
umgangen hätte. Es wäre der Behörde aber an einer gütlichen Lösung, also einer Abtretung dieser wenigen Quadratmeter samt Baum gelegen, man würde sich
finanziell großzügig erweisen. Und ein Lärmschutz wäre natürlich inkludiert. Der Angestellte des Straßenbauamts war froh, dass er zum Vorbringen seines Anliegens nicht
an der Tür des dunklen, alten Hauses anklopfen musste, um mit seinem Bewohner ins Gespräch zu kommen.
Hier am Zaun, im freundlichen, warmen Sonnenlicht des frühen Sommers, ließ sich das Anliegen des Amts viel unbefangener vortragen.
Ein Gespräch kam allerdings nicht in Gang. Der Amtsbeauftragte konnte nicht wissen, dass sein Gegenüber in all den Jahren, in denen er als
letzter Bewohner des abgelegenen Ortsteils die Stellung gehalten hatte, das Sprechen verlernt hatte. Wobei verlernt hatte er es eigentlich nicht, es waren
nur seine verkümmerten Stimmbänder, die aus seiner Stimme einen unverständlichen und unhörbaren Hauch machten, der gerade laut genug war, um einem unsichtbaren
Zuhörer Geschichten zuzuflüstern und Lieder zu summen. Sprechen mit wem? Das Dorf war vor Jahren abgewandert. Zwar hatten ihm die letzten seiner
Nachbarn angeboten, sich ihnen anzuschließen und gemeinsam mit ihnen an einem anderen Ort und unter weniger widrigen Bedingungen neu anzufangen.
Allein, er konnte diesen Ort nicht verlassen.
Dabei war das Leben hier laufend schwerer geworden. Die Hitze hatte mit jedem Jahr zugenommen, die Regenfälle blieben immer öfter aus. Missernten wurden
von der Ausnahme zur Regel. Und leben konnte man in diesem Flecken nur von der Landwirtschaft. Ringsum verdorrten die Felder und Äcker und mit ihnen die
Zuversicht und das Glück der Dorfbewohner. Einer nach dem anderen entschloss sich, mit Sack und Pack den Landstrich zu verlassen und woanders neu anzufangen.
Die letzten der verbliebenen Familien setzten sich schließlich am Ende eines weiteren schlechten Jahres zusammen und beratschlagten, wie sie
vorgehen wollten. Und sie kamen gemeinsam zur Ansicht, dass es keine Alternative zum Auswandern und zur Aufgabe des Dorfes gab. Und da sie entweder ohnehin verwandt
waren, oder zumindest gewohnt waren, zusammen zu wohnen und zu arbeiteten, wollten sie auch gemeinsam eine neue Heimat finden.
Der eine Nachbar, der ohne Familie allein sein Haus mit dem Garten und dem Apfelbaum bewohnte, war zwar mit keinem von ihnen verwandt und war ihnen auch stets
auf eigenartige Weise fremd geblieben. Aber man schätzte seine Arbeitskraft und sein Können und man mochte seine stille Art. Das heißt, man mochte, dass
es von seiner Seite niemals Beschwerden oder Gegenreden gab. Er wäre also wohl ein Gewinn für die kleine Auswanderergemeinschaft gewesen,
aber zwingen konnten sie ihn nicht, und betteln, sie zu begleiten, wollten sie erst recht nicht.
Ja, unfruchtbar war die Gegend geworden. Auch auf die Feldfrüchte im Garten des Dableibers war nicht jedes Jahr Verlass. Aber der Apfelbaum, der etwas abseits stand, war
ein Wunder, er trug stets Früchte. Egal wie trocken das Frühjahr und wie heiß der Sommer waren, auf geheimnisvolle Weise blühte der Baum jedes Jahr aufs Neue und
beschenkte seinen Besitzer mit den schönsten Äpfeln, ohne dass dieser etwas dazu getan hätte. Denjenigen, denen das auffiel und die ihn nach seinem
Geheimnis fragten, antwortete er wahrheitsgemäß nur mit einem Schulterzucken. Er wusste es tatsächlich nicht, warum er seinen Keller im Herbst immer aufs Neue
mit einer reichen Apfelernte füllen und sich davon auch weit über den Winter hinaus bis ins Frühjahr ernähren konnte.
Dass es an den Geschichten lag, die er dem Baum an den Abenden erzählte, wenn die Hitze nachließ und er es sich an den Stamm gelehnt gemütlich machte, an dem
Schluck Bier, das er gelegentlich mit ihm teilte, oder
an den Liedern, die er ihm heimlich vorsang, konnte er selbst nicht glauben, noch weniger wollte er das den anderen sagen.
Genauso wie er ihnen nichts vom Murmeln und Summen erzählen konnte, dass er in den Nächten, wenn er wach im Bett lag, aus dieser Richtung des Gartens vernahm.
Diese fremde und doch vertraute Stimme, die ihn bat zu bleiben, war es, die ihn an diesen Ort band und ihn hinderte, das Dorf gemeinsam mit den anderen zu verlassen.
Jetzt stand er also diesem Beamten gegenüber, der ihm ein Schriftstück mit einem großen, ehrfurchtgebietenden Stempel entgegen hielt, und konnte ihm
nicht sagen, dass Wunsch und Vorhaben des Straßenbauamts unmöglich waren. Und wusste zugleich, dass etwas dagegen zu unternehmen noch unmöglicher wäre.
Mit großen Augen schaute er den Ingenieur auf der Straßenseite des Zauns an und versuchte vergebens, Sätze zu artikulieren. Jener blickte bei
dem mitleiderregenden Versuch, zu sprechen, verlegen drein und drückte ihm, als die Situation unertäglich wurde, den Bescheid schließlich in die Hand.
Mit der Bitte, das Schriftstück durchzusehen, zu unterschreiben und mit dem beiliegenden Rücksendekuvert an seine Behörde zu schicken, machte
er kehrt und marschierte zurück in Richtung Dienstauto, das abseits im Staub eines ehemals fruchtbaren Ackers geparkt stand.
Der Besitzer der paar Quadratmeter Grund mit dem Apfelbaum drauf meldete sich nie bei der Straßenbaubehörde und blieb überhaupt den ganzen Sommer verschwunden.
Die Befürchtung, er könnte schon seit Tagen tot in seinem Haus am Boden liegen und den Nachschau haltenden
Polizisten und Kameraden der Freiwilligen Feuerwehr einen unerfreulichen Anblick bieten, bestätigte sich nicht. Das Eindringen durch die
Polizei war notwendig geworden, weil der Postbote die amtlichen Schriftstücke in Angelegenheiten Grundablöse und Baumfällung nicht zustellen konnte und
diese Sache langsam dringend wurde. Andernfalls hätte man im von der Behörde verständigten Gemeindeamt von L. von der Abgängigkeit des Hausbesitzers gar nichts bemerkt.
Den mit klopfenden Herzen die Tür öffnenden Beamten bot sich also kein furchtbarer Anblick, ganz im Gegenteil, das Haus war
fein säuberlich aufgeräumt, fast so, als hätte es jemand verlassen, der eine lange Reise antritt und wünscht, bei seiner Rückkehr eine
ordentlich hinterlassene Wohnung vorzufinden. Natürlich ließen es sich die Kameraden von der Feuerwehr, denen die überflüssige Aufgabe zufiel,
das unversperrte Haustor aufzubrechen und seinen nicht anwesenden Bewohner zu bergen, nicht nehmen, das Haus gründlich unter die Lupe
zu nehmen, gründlicher, als es eigentlich notwendig war.
Zu groß war die Versuchung, die Nase in fremde vier Wände mit ihren fremden Angelegenheiten zu stecken.
Unverrichteter Dinge zog man wieder ab und hoffte, der Abgängige würde
eines Tages schon wieder auftauchen. Zumindest veranlasste die Gemeinde die Aufnahme einer Abgängigkeitsanzeige bei der Polizeiwachstube.
Aber wie soll man jemanden beschreiben, von dem des kein Foto gibt und von dem man auch sonst nichts weiß?
Ratlosigkeit und auch eine gewisse Resignation machten sich in der Gemeindestube von L. breit. Es würde wohl doch viel länger dauern, bis
die neue Straße gebaut werden würde, und alles nur wegen ein paar Quadratmetern Grund und einem alten Apfelbaum darauf. Weitere Anträge bei
Gericht, Anwaltstermine und Vorstelligwerden bei Behörden und Ämtern wären wohl unvermeidlich. Und alles nur wegen eines eigenbrötlerischen,
stummen Menschen in einer verlassenen Ecke dieses Landstrichs.
Und dann kam der Herbst.
Die Laubbäume erinnerten sich dieses Jahr endlich wieder daran, ihre Blätter mit den ersten Nachtfrösten abzuwerfen. Dabei waren es nicht die Bäume,
die in den Jahren verlernt hätten, ihre Energie in den Knospen zu sammeln und auf den Laubschmuck zu verzichten, viel mehr hatte der Herbst vergessen,
mit Frostnächten den kommenden Winter anzukündigen. Jedenfalls wurden die Bäume im Laufe des Oktobers immer durchsichtiger und gaben den
Blick frei in das Durcheinander aus aus Astgabeln, Ästen und Trieben. Es war ein Radfahrer aus dem Dorf, der auf einer herbstlichen Trainingsfahrt
quer durch diesen ausgestorbenen Ortsteil von L. den Blick ein klein wenig in die Höhe richtete und dort im Apfelbaum eine blaue Arbeitshose und eine
blaue Arbeitsjacke auf einem Ast sitzen sah. In den beiden Kleidungsstücken steckte ein Mensch, der träumend den Kopf an den Stamm gelehnt hatte.
Dem Radfahrer fiel sogleich die eigenartige Form des Astes auf, der wie ein Arm dem Stamm entsprang und sich in einer eigenartigen Biegung um den
leblosen Körper in dem blauen Arbeitsanzug schlang und ihn an sich drückte.
Die Aufregung in L. war nach der Überbringung der Nachricht durch den in höchster Eile retour fahrenden Radfahrer riesengroß und man beeilte sich,
dieses eigenartige Schauspiel mit eigenen Augen zu sehen, ehe die Behörden informiert wurden. Die mussten sich, eingetroffen, erst darüber klar werden,
wie vorzugehen sei, um den eigenartig unversehrten Leichnam aus der Astklammer des Apfelbaums zu lösen. Unter den
Augen all der herbeigelaufenen Gaffer musste dies pietätvoll, professionell und ruhig geschehen. Nachdem ausreichend Zeit verstrichen war,
um auch dem allerletzten Ankömmling die Gelegenheit zu bieten, an diesem Spektakel teilzunehmen, hievte ein Traktor schließlich zwei Gemeindearbeiter
in die Höhe, die mit einer Säge vorsichtig die innige Umarmung von Baum und Mensch lösten und den toten Körper zurück auf den Boden brachten.
Während des ganzen Winters war dieses seltsame Ereignis ein vielbesprochenes Thema in den gut beheizten Stuben von L., aber bereits als sich
der Frühling mit längern Tagen, früher Hitze und Trockenheit ankündigte, wurden andere Angelegenheiten und Sorgen wichtiger und man erinnerte sich
immer seltener an den Mann im Apfelbaum, bis Anfang Sommer die Angelegenheit fertig diskutiert und endgültig vergessen wurde.
Den seltenen Passanten des verlassenen Hauses fiel jedoch in den folgenden Monaten auf, dass der Baum krank wirkte und abzusterben schien,
ohne dass sich dafür Ursachen finden ließen.
Ein allerletztes Mal wurde der Apfelbaum schließlich noch zum Ärgernis. Ein einigermaßen verdatterter Gemeindearbeiter, der ausgeschickt worden
war, um die Gefahr, die der nunmehr tote und morsche Baum für Autofahrer und Fußgänger darstellte, zu bannen, berichtete
bei der zweiten Halben Bier im örtlichen Gasthaus davon, dass er sich die Kette seiner Motorsäge an zwölf langen Kupfernägeln ruinierte, die in
Form eines Herzens in den Stamm des Apfelbaums getrieben worden waren.
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