Coole Halbfinal-Boulder. Die 18-jährige Jessica Pilz in der Mitte klettert ins Finale.
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Schon seit vielen Monaten - genauer gesagt, seit ich mich als Spätberufener für den Instruktor Sportklettern Leistungssport qualifiziert habe, also Ende November 2014 - geistert
die Boulder Europameisterschaft 2015 in Innsbruck in meinem Kopf herum. Lange Jahre hat mich das Wettkampfklettern nicht mehr interessiert. Der letzte, bleibende Eindruck war
der eines ewig lange Zeit unter einer schwierigen Stelle der Wettkampfroute verharrenden Körpers, der das Zusehen im Fernsehen zur Qual machte; wer mag schon 10 Minuten lang
menschliche Stilleben ansehen? Das waren allerdings noch Vorstiegswettkämpfe, sogenannte "Lead"-Bewerbe, und neben dem Speedklettern war das die einzige Wettkampfdisziplin.
Zwar sind inzwischen auch die Lead-Bewerbe wieder richtig schnell und spannend geworden, weil das Reglement geändert wurde und der Routenbau sich weiterentwickelt hat,
aber fast noch mehr Schwung in den Wettkampfzirkus hat das Bouldern mit seinen artistischen Bewegungsformen und dem extrem hohen Tempo gebracht. Seit ich mich vergangenes Jahr
quasi von Berufs wegen mit dem Bouldersport auseinandergesetzt habe, bin ich ein begeisterter Zuseher solcher Bewerbe.
Mein Freund Hias arbeitet für die Mammut Sportsgroup Austria und hat das Sponsoring für die Boulderbewerbe in Innsbruck über. Wir haben beide vor langer Zeit in Innsbruck
studiert, sind dort gemeinsam klettern gegangen und haben das eine oder andere Bier im Innkeller getrunken, nachdem wir etliche Seillängen im Höttinger Steinbruch geklettert sind.
Davon abgesehen hat es ja auch die Sabine - wackeres Mitglied unserer seinerzeitigen Klettergang - in die Nähe von Innsbruck, nach Telfs zu Arthur verschlagen, die wir beide schon
lang nicht mehr aufgesucht haben. Es sprechen also viele Gründe dafür, das Wochenende dazu zu nützen, uns alle gemeinsam bei der Boulder EM zu treffen. Hias weiß inzwischen allerdings,
dass das mit mir nicht so einfach ist: ich habe ihm fest versprochen, mich eine Woche vorher zu melden und mein Kommen fix zu- oder eben abzusagen. Zwei Tage vor dem Ereignis ruft er mich
an und fragt ohne Ärger in der Stimme, ob ich nun käme oder nicht. Der kleine, träge Teufel auf meiner linken Schulter flüstert mir während des Telefonats zu
"Das ist ja alles so umständlich, wo wirst du schlafen? Und dann die vielen Leute..." Der schüchterne Engel mit dem Rückgrat auf meiner
rechten Schulter sagt nur "Du bist ein Trottel, wenn du nicht fährst!" Um zu einem Entschluss zu kommen, braucht es dann aber doch
eine Gottesentscheidung: ich sage Hias, wenn Arthur und Sabine an diesem Wochenende daheim wären und wir bei ihnen unterkommen könnten, dann würde ich nach Innsbruck fahren. Gott ist mir gnädig und
Sabsi und Arthur zu Hause - und sie freuen sich sehr über unser Kommen!
Einen Tag später klingelt das Telefon erneut. Hias möchte wissen, ob mich eine Teilnahme am Boulder-Jam am Samstag Mittag interessieren würde, er könnte mich noch unterbringen.
Das Teufelchen auf der Schulter links schreit gleich "Um Gottes W... - auf gar keinen Fall! Dafür bist du zu schlecht, zu alt, zu eitel, zu ...",
aber der interessierte Sportsgeist
in meinem Kopf schnappt schnell Hias' Worte und kettet sie zwischen beiden Ohren fest. Ganz allein mag ich aber beim Boulder-Jam nicht antreten, und Hias bietet an, auch für Flo einen Startplatz
zu organisieren. Ich lasse es auf ein weiteres Gottesurteil ankommen, und wieder fällt es - ich denke, ich darf es so interpretieren - positiv aus: im Gegensatz zu mir ist
Flo sofort begeistert (wenn auch nicht ohne Selbstzweifel) - allein einige Termine aus Flo's wie immer dicht gefülltem Terminkalender könnten sein Antreten verhindern. Konkret geht es um
ein Trompetensolo, das er am Samstag Abend in Schwaz zu spielen hätte. Aber zeitlich geht sich beides ganz locker aus und zerschundene Finger haben ihn ja noch nie daran gehindert, fehlerfrei zu musizieren.
Hias quittiert meine Mitteilung, dass ich sein Angebot gerne annehme, mit einem "Hihi, då håb i beim Zuaschaun sicher mein Spaß!"
Innsbruck hat sich nicht verändert. Mit einem breiten Grinsen, das weder Hias noch ich uns verkneifen können, geben wir uns unter der Annasäule die Hand. Bis zum ersten Höhepunkt, dem
Halbfinale in der Arena am Marktplatz, sind noch eineinhalb Stunden Zeit, Zeit genug, um den obligatorischen Besuch im Sporthaus Sportler abzustatten. Wenn der Marsch durch die
Via Giovanni Segantini in Arco mit all den mit Kletterausrüstung prall gefüllten Geschäften den Himmel für das Kletterer-Herz darstellt, dann ist ein Besuch beim Sportler sozusagen schon einmal ein kleiner
Blick ins Paradies: so viele Kletterpatschen, so viel Gewand... Es kostet mich zwar Kraft zu widerstehen (eigentlich ist es eher ein Mangel an Kraft, nämlich der Kaufkraft), aber im
Gegensatz zu Hias verlasse ich das Geschäft so wie ich es betreten habe, mit leeren Händen. Er trägt dafür die Lösung all seiner zukünftigen Kletterprobleme unterm Arm: einen nagelneuen
La Sportiva Solution der Größe 42 1/2. Und weil noch Zeit bleibt, fallen wir am Weg zur Wettkampfstätte ins Elferhaus hinein, wo wir uns mit einer Halben Bier und frittierten Kartoffelvierteln stärken.
Geistig geschärft und satt stehen wir vor der Bühne mit den 4 Meter hohen Boulderwänden, wo bunte Griffe und Strukturen schöne Kletterprobleme definieren. Es regnet und ich wundere mich, mit
welcher Gelassenheit Hias und Jojo dabei das Geschehen verfolgen. Aber mir wird schnell klar, dass man in den grünen Jacken, die die Mitarbeiter von Mammut tragen, offensichtlich nicht nass wird.
Meine eigene Regenjacke hält mich zwar ebenfalls noch trocken, aber mit jedem Tropfen Wasser auf meine Kapuze werde ich nervöser. Dann aber hört der Regen einfach auf, Sabine und Arthur stoßen
zu uns und wir können uns über ein richtig spannendes, trockenes Halbfinale bei kühlen Temperaturen freuen. Möglicherweise ist nur Adam Ondras Freude größer als die unsere, nachdem er buchstäblich in letzter
Minute das 4. Boulderproblem doch noch klettern kann und sich so für das Finale am kommenden Tag qualifiziert.
Nach dem Halbfinale am Marktplatz sind Hias und ich bei Sabine und Arthur zu Gast in Telfs. Sabsi zaubert in Windeseile ein Abendessen aus dem Hut, mit vielen guten Radieschen aus dem eigenen Garten,
und einer guten Flasche Rotwein aus dem Keller. Die anfänglichen Bedenken, dass zuviel Alkohol und zu wenig Schlaf meinen Auftritt beim Boulder-Jam am folgenden Tag beeinträchtigen könnten, werden mit
jedem Schluck Wein und mit jeder vorrückenden Minute kleiner. Wir sitzen gut und freuen uns einfach, dass wir uns wiedersehen. Noch rechtzeitig vereinbare ich mit Flo für den folgenden Tag, dass wir uns um
halb elf Uhr treffen, eine halbe Stunde vor Wettkampfbeginn, Zeit genug, um sich registrieren zu lassen und sich aufzuwärmen.
Samstag um dreiviertel elf, noch ziemlich müde aber vom Frühstück gut gestärkt warte ich auf den Flo, der gerade auf der Autobahn Richtung Innsbruck rast. Er ist am Vorabend eingeschlafen,
noch bevor er den Wecker stellen konnte... Inzwischen könnte ich uns ja schon einmal beide anmelden, denke ich mir, und stelle Minuten später verdattert fest, dass wir nicht auf der Startliste
stehen. Resigniert, aber nach Erblicken all der fitten Konkurrenten auch irgendwie erleichtert, teile ich Hias mit, dass das mit der Anmeldung wohl doch nicht geklappt hätte. Aber trotz flehentlicher
Bitten, es gut sein zu lassen, sagt Hias
"Des måch ma scho!" und setzt seinen Mitarbeiter Jojo in Bewegung, und es dauert nicht lang, bis wir von ihm die frohe Botschaft erhalten,
Flo und ich mögen uns bei der Wettkampfleitung zwecks Registrierung unserer Daten melden, d.h.: der Flo muss die Felder des Anmeldeformulars ausfüllen;
meine Daten als Wettkampfathlet sind mysteriöserweise in die Datenbank des ÖWK gelangt, obwohl es 20 Jahre
her ist, dass ich als Wettkletterer im Stift Admont bei der Österreichischen Meisterschaft debüttiert habe. Damals gab es den Österreichischen Wettkletterverband noch gar nicht. Tja, und so kommt es,
dass wir zwei alten Schleierwasserfall-Haudegen uns vor Hias Augen und der Linse meiner Kamera, die er in Händen hält, mit 15-minütiger Verspätung auf den geheiligten Boulderwänden der
Europameisterschaft mit 24 leichten bis schweren Bouldern herumschlagen.
Da es geheißen hat, es zählen nur die gekletterten Boulder, bewältigen wir die leichten Boulder zuerst. Als Gentleman der
alten Schule lasse ich ständig den anderen Boulderern den Vortritt. Das mag zwar sehr nett sein, im Rahmen eines Boulder-Jams ist es aber ziemlich dumm, weil man selbst nur sehr wenig Versuche macht.
Über das Rein- und Vordrängen habe ich mich immer sehr geärgert, schon damals, als der Flo und ich noch gemeinsam abends im Tivoli klettern waren, und regelmäßig eine rothaarige Rotznase direkt unter uns
in die Kletterrouten eingestiegen ist und uns dabei schon fast zwischen den Füßen durchgeklettert ist. Tja, der Rotzlöffel mit den Roten Haaren ist heute 24 Jahre alt, mehrfacher Weltmeister, heißt Jakob Schubert
und klettert am Abend als Führender des Halbfinales um die Europameisterschaft.
Viele kleine Mädchen im ÖWK-shirt klettern mir um die Ohren, dafür schaffe ich aber auch Boulder, die andere kleine Mädchen ohne ÖWK-shirt nicht schaffen. Dann treffe ich bei Boulder 19 auf meinen
wahren Konkurrenten: Martin K. hat weniger Haare am Kopf als ich, woraus ich schließe, dass er älter ist als ich und ergo als ältester Teilnehmer das Riesen-Stoffmammut gewinnen wird. Schade, aber
der Arthur hat mir schon prophezeit, dass ich ganz sicher nicht der älteste Boulderer sein werde und daher nicht mit dem großen Stofftier im Arm am Siegertreppchen stehen werde.
Egal, ich gebe mein Bestes, habe einen Riesenspaß an der Sache und beende den Boulder-Jam topmotiviert! Dem Flo geht es ebenso, wie er später bei einer seit langer Zeit vermissten Pizza von der Pizzeria
Prendi beim Internationalen Studentenheim erzählt. Einigermaßen erschöpft schauen wir uns zu dritt die Siegerehrung an, die insofern überraschend endet, als nicht diejenigen mit den meisten geschafften
Bouldern ganz vorne sind, sondern jene mit den meisten, auf geheimnisvolle Weise errechneten Punkten.
Dann betritt Martin K. das Podest des Siegers und nimmt das große Mammut in Empfang. Ich klatsche und freue mich für ihn. Beim Verlassen
des Areals interessiert es uns aber doch, an wievielter Stelle wir gereiht sind, und ich möchte wissen, welcher Jahrgang mich da geschlagen hat. Ich gehe die Liste durch und suche Zahlen kleiner als 1969.
Es gibt keine. Martin K. ist Baujahr 1970. Wegen des Malheurs bei der Anmeldung sind der Flo und ich nicht auf die offizielle Starterliste gekommen, dafür scheinen wir aber in der Ergebnisliste auf. Naja,
da wird mein kleines Stoffmammut mit den roten Socken traurig sein, wenn es weiterhin allein das Packen und Entpacken meines Kletterrucksacks mitverfolgen muss...
Den restlichen Nachmittag verbringen wir mit Pizza, Bier und Kaffee, und mit Fachsimpeln.
Abends vor der Tribüne der Wettkampfstätte zeigt Innsbruck wieder einmal, was es zu bieten hat: zunächst einmal viele Touristen. Dazwischen LäuferInnen und RadfahrerInnen jeden Alters
und Ambition. Reichlich mit Bierdosen munitionierte Mädchengruppen; sie suchen damit Einlass ins Areal und werden von der
Security abgewiesen, was viele von ihnen veranlasst, sich den Inhalt der Dosen sofort einzuverleiben. Wind- und wettergegerbte Sportlerfrauen mit
schwarzen Haaren im mittleren Alter, die viel Haut zeigen, und die so trocken aussehen, als hätte man das letzte Bisschen Feuchtigkeit schon vor Jahren aus ihnen ausgewrungen.
Gestandene Innsbrucker, die so fest am Platz auf dem sie stehen
angewurzelt sind, dass nicht einmal ein Bulldozer sie auf die Seite schieben könnte. 18-jährige Studenten mit Vollbart. Und überall viel fröhliche Jugend.
Das Finale hält, was das gestrige Halbfinale versprochen hat, obwohl sich bei den Damen bereits nach dem zweiten Boulder abzeichnet, wer den Titel gewinnen wird. Bei den Herren bleibt es zumindest bis
zum letzten Boulder spannend. Hias hat uns gut mit Tribünenkarten versorgt, Sabsi, Arthur und ich sitzen genau in der Mitte und haben den perfekten Überblick, allerdings sind wir alle drei
irgendwie erschöpft: Arthur von der Arbeit, bei mir hat die Anspannung des Boulder-Jam's der Müdigkeit Platz gemacht und bei Sabine weiß ich es nicht. Trotzdem verfolgen wir das Geschehen mit
Begeisterung bis zum Schluss. Und wer sind jetzt die Europameister? Die kommen dieses Jahr aus Deutschland: das Kraftpaket Jan Hojer und eine sogar während des Boulderns scheinbar noch lächelnde Jule Wurm.
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